Dieser Text enthält nicht mehr Spoiler als die, die hinten auf dem Buch sowieso schon draufstehen.
Es ist mein Verschulden, dass ich seit einem Jahrzehnt in der deutschen Science-Fiction herumschleiche und noch nie etwas von Gabriele Behrend gelesen habe. Es mangelte nicht an Hinweisen. So lag mir mein guter Freund Markus Tillmann, der legendäre Dozent für Germanistik an der Uni Bochum, schon seit Jahren in den Ohren, ich solle mich endlich mit ihren Werken befassen.
Kürzlich hatte ich – anlässlich der WetzKon III – das Privileg, ihr neustes Werk „Die Frau mit den roten Schuhen“ mit nach Hause zu bringen.
Ich habe es umgehend gelesen und es auch gleich falsch gemacht. Mein Fehler – klarer Fall von geistiger Umnachtung. Ich dachte nämlich, ich würde eine Sci-Fi-Geschichte lesen und bin prompt nicht klargekommen.
Es hat lange gedauert, bis ich verstanden habe, was ich eigentlich vor mir habe. Ich hatte das Buch quasi schon durch und war immer noch verwirrt. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, denn die Dauer meiner Verwirrung ist lediglich indikativ dafür, wie sehr ich entwöhnt bin, solche Geschichten in der deutschen Science-Fiction überhaupt zu sehen.
Umso dankbarer war ich, als mein träges Hirn endlich den richtigen Gang fand und mich von „belletristische Sci-Fi“ hochschaltete auf: „literarische Sci-Fi Novelle“.
Als ich endlich umgeschaltet hatte, ging auch sofort mein Herz auf.
Die Story ist so einfach, wie man sie in der Science-Fiction bekommen kann: Frau reist in der Zeit und darf gegen Geld bewegende Momente ihrer eigenen Biografie neu erleben.
Die einzige Regel ist: Ansehen, aber nicht verändern.
Natürlich hält sie sich nicht daran. Selbstverständlich endet das in beliebig vielen Katastrophen.
Muss man dafür ein Buch schreiben?
Die meisten Schreibenden würden bereits an dem Retro-Setup scheitern. Zu oft gesehen. Oder damit, dass die Autorin den Plot schon mal ganz frech hinten aufs Buch schreibt. Als würde sie sagen: „Hier, bitteschön. Alle Spoiler.“ Macht aber nichts – denn darum geht es nicht.
Darüber hinaus bemüht sich das Buch kaum um ein wasserdichtes Worldbuilding. Die Zeitreise-Firma benimmt sich eher seltsam, als hätte sich da niemand jemals Gedanken über die Konsequenzen harter, paradoxer Eingriffe in die Zeitlinie gemacht. Und die Struktur – ich war so verwirrt.
Das Buch kommt mit 137 Seiten dahergeschlendert, als wolle es sagen: Wer bitte braucht denn mehr Platz?
Es dauert dann ein volles Drittel des Buches, bevor der Leser überhaupt an den Punkt der eigentlichen Handlung kommt.
Auf exakt der Hälfte lernen wir, dass Eingriffe in den Zeitstrahl zum Scheitern verurteilt sind. Und nun? Nach zwei Dritteln des Buches verstehen wir dann endlich, warum es zwei Handlungsebenen gibt. Das ist mutig.
Und hier ist der Punkt, der mich total konsterniert hat: Man würde meinen, dass die Autorin nur scheitern kann. Jeder andere Autor wäre das auch. Also, ich auf jeden Fall.
Nicht so Gabriele Behrend.
Gabriele Behrend hat eine wunderschöne Geschichte geschrieben, die mir große Freude gemacht hat.
Es ist die Art, wie sie schreibt. Es ist verzaubernd, wie schwerelos ihre Sprache sein kann, dabei fast lyrisch klingt und dennoch mit wenigen Worten präzise am Punkt bleibt, ohne auch nur ein einziges Mal aufgesetzt zu wirken. Ihr Ton ist warm, hoch-empathisch, ja fast liebevoll, ohne dabei zu schwer auf der Handlung zu lasten oder ins Kitschige abzudriften. Die ganze Geschichte weht wie auf Flügeln am Leser vorbei und selbst in den dunkelsten Momenten bleibt ihr Ton nirgendwo stecken. Keine Ahnung, wie sie das macht. Selbst inmitten tiefster Tragik schafft es Gabriele Behrend, einen leichten, fast schwebenden Ton zu benutzen. Dabei bekommt das Ganze Geschehen fast etwas Traumhaftes.
Es ist dieses Sphärische, Entrückte, was der Handlung trotz der klaren Sci-Fi-Elemente die Färbung eines phantastischen Realismus‘ gibt. Selbst Motive, die einer erbarmungslos objektiven Logikbewertung nicht standhalten sollten, bleiben dank ihrer Sprache vollkommen glaubhaft. Nur literarisches Talent kann das. Ich bin so faktengetrieben und linkshirnlastig, wie man sein kann, aber Gabriele Behrend verkauft mir Zeitreisen, in denen es nicht um Zeitreisen geht, und die manchmal nicht wirklich Sinn ergeben, als gäbe es nichts Normaleres auf der Welt. Mich interessiert die harte Science-Fiction-Logik anderer Maßstäbe in diesem Moment überhaupt nicht. Denn es ist nicht notwendig. Es ist weder relevant noch wichtig.
Es geht nicht darum „was“ passiert, es geht um das „wie“ und die absolut unerträgliche Leichtigkeit, mit der die Autorin das Sein und Leiden der Protagonisten begleitet.
Weder könnte ich das, noch würde ich mich das trauen.
Mir ist noch nie jemand in der deutschen Science-Fiction untergekommen, dessen Sprache – ohne jedes Problem – fundamentale Strukturfragen von relevanten Plot-Motiven einfach beiseite hebt. Ich wusste nicht mal, dass das geht. Und mit welcher Leichtigkeit. Ich wäre angepisst, wäre ich nicht so beeindruckt.
Das funktioniert übrigens ausschließlich bei literarischen Autoren. Es funktioniert, wenn die Sprache, das Gefühl und der Ton so stark sind, dass sie jedes beliebige Handlungsmotiv einfach auf ihren Schultern tragen können.
Es ist extrem beeindruckend und ich wünschte, ich könnte das.
Könnte ich so schreiben, müsste ich nicht so hart auf Ironie zurückfallen, um meine Handlung am Laufen zu halten.
Gabriele Behrend schreibt auf einem sehr hohen Niveau und ihr Buch war für mich wie ein warmer Sommerregen. Ich konnte die Erfrischung wirklich brauchen. Die Science-Fiction in Deutschland wird im Moment von Werken dominiert, deren Ton oft von einer verblüffenden Kälte durchzogen ist. Es wird – so heißt es – die Freiheit gefeiert, aber es ist eine Freiheit, die keine Hoffnung in sich trägt. Keine Liebe und kein Licht. Mir hat „Die Frau mit den roten Schuhen“ gut getan. Es hat mir gezeigt, was ich in unserer deutschsprachigen Szene eigentlich vermisse. Mir fehlt das Herz einer Autorin, die voller Mitgefühl und Barmherzigkeit tief in die Seelen ihrer Protagonisten hinabsteigt und Zeugnis ablegt für das Leiden, das unser aller Leiden ist. Das Leben gebrochener Menschen, die jede Gelegenheit nutzen würden, die Fehler ihrer Vergangenheit zu korrigieren. Die so gebrochen sind, dass sie auch versuchen würden, ein hundertstes Mal zu kleben, was schon neunundneunzig Mal zerbrochen ist. Das Buch hinterlässt mich tief beeindruckt.
Wie es möglich sein kann, dass Gabriele Behrend nicht fortwährend Preise einsammelt, entzieht sich meinem Verständnis und ist empörend.
Aber – und das ist traurig – ich kann verstehen, warum sie nicht gesehen wird. Die Autorin macht es dem Leser nicht leicht. Er wird nicht von Anfang an vollständig orientiert. Es dauert, bis sich das Buch entfaltet. Es ist, als würde man einer Blume beim Blühen zusehen. Man muss Geduld haben und sich auf den Prozess einlassen. Es ist offensichtlich, dass Gabriele Behrend eine sehr leise Autorin ist. Ihre Werke sind unauffällig, unaufdringlich und sehen nicht wie Sci-Fi aus. Man muss präsent sein, sich auf das Werk einlassen und sich von der Sprache tragen lassen.
Für mich steht außer Frage, dass die Autorin hochtalentiert ist. Wir brauchen ihre Stimme. Sie ist das Gegengewicht zu dem Aggressiven, dem Kalten, dem Erbarmungslosen, das im Namen des Kampfes für die Freiheit des Transhumanismus, das Licht in unseren Herzen zu löschen droht.
Ich könnte noch zehn weitere Bücher dieser Art brauchen.
Was für eine tolle Rezension, macht richtig Lust auf das Buch! Viele Grüße, Yvonne
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Das hast du schön beschrieben. Ich teile deine Eindrücke (ohne in der Lage zu sein, sie in so treffende Sätze zu packen). Falls du dich nicht scheust, „ältere“ Bücher von ihr zu lesen: Schau mal in „Salzgras & Lavendel“ rein. Würde dir bestimmt gefallen.
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Tolle Rezension, das Buch kommt definitiv auf meine Liste. Mit meiner heimlichen Leidenschaft für Bücher, die einen ins kalte Wasser werfen und dann positiv überraschen hört sich das nach einem Fall für mich an.
Deinen Kommentar zur Ironie kann ich nur zu gut nachvollziehen. Ich denke, dass es schwierig ist, sich davon zu lösen und ehrlicheres, einfühlsameres Schreiben zu wagen, wenn fast alle (größeren) Bücher und Filme genau das nicht tun.
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