Der Himmel wird zur See – Hintergrund

Der Titel und die dazu passenden Gedichte zu Beginn des Werkes geben sehr deutlich vor, dass Hannahs Abenteuer an Alice berühmter Reise ins Wunderland angelehnt ist.

„Alice im Wunderland“, ursprünglich „Alices Abenteuer im Wunderland“, ist ein erstmals 1865 erschienenes Kinderbuch des britischen Schriftstellers Lewis Carroll, eigentlich Charles Lutwidge Dodgson.

Es wirkt möglicherweise, als wäre das auf diese Weise konzeptuell von Anfang an geplant gewesen. Tatsächlich hatte ich das Buch fertig strukturiert und mit dem Schreiben bereits begonnen, bevor es mir überhaupt auffiel. Ständig sprangen mir neue Motive zu und ich fragte mich in einem fort, warum ich ständig das Gefühl hatte, ich würde das Buch kennen, bevor ich es überhaupt geschrieben hatte.

Als mich schließlich die Erkenntnis traf, wurde mir auch bewusst, dass ich in Schwierigkeiten geraten war.

Seit seinem Erscheinen hat „Alice im Wunderland“ unzählige andere Werke inspiriert, Generationen von Kinderbuchautoren beeinflusst, seine Motive in alle Bereiche der Gesellschaft und tief in den Strom unserer Kultur einfließen lassen. Es erlebte zahlreiche Verfilmungen, hat aber auch (in der Gegenwart) eine heftige Diskussion über die moralische Motivationslage des Autors entfacht. Die relativ offensichtliche Pädophilie des Schriftstellers, für sich genommen, würde dabei das Licht, welches auf sein legendäres Werk fällt, bereits stark genug überschatten. Hinzu kommt jedoch die kontrovers geführte Diskussion über die Einbettung aller moralischen Aspekte in ihren historischen Kontext – der viktorianischen Zeit.

Das macht die Lage für mich als Autor, der gerne die Motive anderer Autoren aufgreift, ethisch nicht wenig kompliziert.

Hier ist nicht der Ort, all die Aspekte der Diskussion, ihr ganzes Für und Wider, sowie die undurchsichtige Indizienlage forensisch zu beleuchten, oder die Beweislage im Detail aufzuarbeiten. Dazu fehlt mir der Raum und vor allem die Kompetenz. Jeder, der möchte, wird mit sehr wenig Aufwand im Netz zahllose Quellen finden, die ihm beliebig viel Material für eine moralische Diskussion und Urteilsfindung an die Hand geben werden.

Worauf es am Ende hinausläuft, ist, dass wir wieder einmal der alten Frage gegenüberstehen: Wie stehen wir zu dem Werk eines Künstlers, dessen moralische Grundhaltung uns – vorsichtig formuliert – fragwürdig erscheint? Es ist die Frage, ob wir es uns erlauben können, die Musik von Michael Jackson zu hören, oder uns die Serie von Bill Cosby anzuschauen.

Lösen wir das Werk von seinem Schöpfer und erlauben der Kunst allein und für sich zu stehen? Oder erklären wir das für unmöglich, weil sich Werk und Moral des Künstlers per definitionem nicht trennen lassen und bestehen darauf sein Werk einzustampfen und seinen Namen aus der Geschichte zu streichen?

Manche Autoren wählen den Weg, die Kunst stehen zu lassen und mit ethischen Firewalls zu umgeben. Warnhinweise vorne und moralische Distanzierungen hinten. Ich hatte das erwogen, aber es erschien mir wie ein plumper, strategischer Rückzug aus dem eigentlichen Problem. Als würde ich meiner Aufgabe nicht gerecht werden wollen und den einfachsten Weg hinaus suchen. Im Sinne von: Ja, ich folge den Motiven der inspirierenden Vorlage, aber ich bin ganz ehrlich ein besserer Mensch – versprochen. Es erschien mir billig. Aber wie begegne ich dem Problem dann?

Was mir in all den Monaten, in denen ich recherchiert habe, schmerzhaft bewusst wurde, ist, dass ich den Einfluss eines Motivs auf die Kultur nicht ungeschehen machen kann, besonders wenn es sich auch noch um archetypische Bilder handelt. Die Suche nach sich selbst am Grunde des Brunnens des Unbewussten. Ideen, die so alt sind, dass sie dazu neigen sich zu verselbstständigen und sich in die Motivsprache unseres Unterbewusstseins einzubetten. Genau so ist es mir ja auch passiert. Die Bilder, denen ich seit meiner Kindheit ausgesetzt war, schleichen sich in mein Werk, ob ich das will oder nicht.

Am Ende wurde mir eines klar: Ich kann das letztliche moralische Urteil nicht allgemeingültig treffen, ich bin mir nicht einmal sicher, ob uns das überhaupt zustehen sollte. Vielleicht gehört es zur ethischen Selbstfindung des Einzelnen, dies immer aufs Neue für sich selbst zu entscheiden. Immer, wenn der Song im Radio läuft, oder die Wiederholung im Fernsehen.

Was ich jedoch tun kann, ist die moralische Verantwortung für die Verwendung der Motive übernehmen. Ich kann die Schuld nicht klären, ich kann aber die Schuldfrage thematisieren. Ich kann die Motive nicht verbannen, aber ich kann transparent machen, wo sie herkommen. Ich kann Stellung beziehen und die Abgründe als solche benennen. Es würde jedoch bedeuten, einige harsche moralische Fragen aufzuwerfen.

Wie es der Zufall will, reist meine Protagonistin in eine bizarre Welt voller Träume. War es nicht Oscar Wilde, der so treffend darauf hinwies: „Sie haben versprochen, dass Träume wahr werden können – haben aber vergessen zu erwähnen, dass Albträume auch Träume sind.“

Die Reise meiner Protagonistin führte sie, wie zuvor Alice, hinab in ihr Unterbewusstsein, wo sie Träumen und Alpträumen konfrontieren musste, um am Ende mit mehr zurückzukehren, als sie mitgenommen hatte. Die immer neue Reise einer Heldin, die ihren Schatten entgegentreten muss, bevor sie in ihr neues Leben aufsteigen darf. Wenn sie es richtig gemacht hat, wird ihr neues Leben viel mehr sein als die Summe der Teile, vor denen sie geradezustehen hatte.

Die Geschichte erwies sich als schwere Aufgabe für mich und ich behaupte nicht, dass ich so recht damit fertig geworden bin, aber das behaupte ich immer. Es ist in meiner Arbeit von Buch zu Buch schon zum Klischee erstarrt. Ich habe meiner Protagonistin auf ihrem Weg alle ethischen Fragen zugeworfen, die ich im Themenkomplex finden konnte. Vielleicht reflektiert ihre Handlung am Ende mehr Weisheit, als ich vermocht hätte, wer weiß. Das letzte Urteil liegt wie immer bei den Lesern.

Hinterlasse einen Kommentar