Gibt es eine Kompetenz, die ein Autor vor allen anderen benötigt, wenn er sich als Schriftsteller entwickeln will? Ich bin mir nicht sicher, aber es gibt eine Fähigkeit, von der ich glaube, dass man nicht genug davon haben kann. Es ist etwas, dass ich gelegentlich vermisse, wenn ich versuche mit Autoren die Qualität ihres Schreibens zu thematisieren.
Ich spreche von kritischer Selbstreflektion.
Menschen, die sich selbst reflektieren, findet man heutzutage hauptsächlich in der Version, die beginnt mit: „Habe ich schon erzählt wie toll ich bin? Nein? Pass auf …“ Die Sozialen Medien sind randvoll davon. Das eigene Handeln kritisch zu reflektieren, also aktiv seine Unzulänglichkeiten und Fehler zu suchen, und diese dann laut und mutig zu thematisieren ist eher selten und laut der Psychologen ein sicheres Zeichen innerer Reife.
Es ist jedoch eine Eigenschaft, die ein Autor haben sollte, wenn er Fortschritte machen will. Er muss in der Lage sein von seinem Schreiben zurückzutreten und viele harte Fragen zu stellen. Laut zu stellen. Nachdrücklich zu stellen.
Habe ich gesagt, was ich sagen wollte? Habe ich es auf die bestmögliche Weise gesagt? Ist das hier das Beste, was ich leisten kann? Hätte ich mir mehr Mühe geben können? Steht dieser Text hier auf der gleichen Stufe, wie dieser Bestseller der Weltliteratur, den ich so liebe? Nein? Warum nicht? Was muss besser werden? Wo genau liegt meine Komfortzone und warum kann ich sie nicht verlassen? Was kann ich überhaupt nicht und wie kann ich es lernen? Ist diese neue Geschichte besser als die alte? Was habe ich im Verlauf des letzten Jahres eigentlich gelernt? Habe ich wirklich einen Roman geschrieben, oder habe ich nur dreihundert Seiten mit Wörtern gefüllt?
Der Schlüssel ist also nicht zu fragen: Ist das hier jetzt gut genug, damit ich endlich aufhören kann zu schreiben? Sondern: Welche Baustelle kann ich als Nächstes angehen, wenn ich mich als Schriftsteller weiter entwickeln will?
Ich sage bewusst entwickeln will und nicht erfolgreich sein will. Wer mich kennt, weiß das dies eines meiner Lieblingsthemen ist. Der Unterschied zwischen einem Autor, der erfolgreich sein will und einem der ein guter Schriftsteller sein will. Der eine ist Geschäftsmann, der andere Künstler. Die Grundmotivationen sind sehr unterschiedlich und – wie weithin bekannt – interessiert mich persönlich nur das Schreiben.
Jemand der schreiben kann, kann immer noch erfolgreich werden. Das ist dann quasi ein netter Nebeneffekt. Jemand der nicht schreiben kann, kann vielleicht einen Glückstreffer landen, aber selbst dieser wird niemals ein wirklicher Erfolg sein.
Leider ist unsere Gesellschaft der kritischen Selbstreflektion nicht wirklich zuträglich. Wir sind vielmehr gerade Zeuge, wie Menschen konditioniert werden minimale Aufmerksamkeitsspannen zu unterhalten und Erfolge einzufordern auf Basis von keinerlei Investment. Weder emotionaler Natur, und schon gar nicht in Form von Zeit.
Ein Schüler trat einmal vor einen Lehrer und fragte: „Meister, wie lange dauert es Eure Kunst zu perfektionieren.“
„In aller Regel etwa zehn Jahre für die Grundlagen“, kam die Antwort des Lehrers.
„Zehn Jahre!“, rief der Schüler. „Was, wenn ich doppelt so hart arbeite, wie alle anderen?“
„Dann dauert es zwanzig.“
Auf den verwirrten Blick des Schülers erklärte der Lehrer:
„Wer mit einem Auge immer auf das Ziel starrt, hat nur noch eines für den Weg.
Es ist aber leider genau das, was ich beobachte. In den sozialen Medien tummeln sich geradezu verblüffend viele Autoren, die sich für volle fünf Minuten hinsetzen, ihren ersten Einkaufszettel verfassen und dann bitte umgehend reich und berühmt sein wollen, mindestens aber berühmt.
Die gleichen Autoren sind dann auch Vollzeit damit beschäftigt endlose Energien in Auftritt und Bewerbung und Unterlagen und Website und Marketing und Vermarktung ihres Labels zu stecken. Die T-Shirts für den Merchandising-Shop passend zum YouTube-Kanal mit den eigenen Lesungen sind meist schon gedruckt, bevor die Tinte auf dem Einkaufszettel trocken ist und der Fotograf für das Insta-Shooting klingelt auch schon.
Seltsamerweise möchte niemand den Fokus auf das Handwerk legen. Schlägt man vor, vielleicht erst mal ein paar Jahre zu schreiben, wird man sogar angesehen, als hätte man etwas richtig Schmutziges gesagt.
Das Ganze ist natürlich weder überraschend noch verwunderlich. Es passt vielmehr sehr gut in den allgemeinen Trend unserer Gesellschaft. Wir kommen von einer Facebook-Gesellschaft zu einer Instagram-Gesellschaft und sind auf dem Weg zu einer TickTock-Gesellschaft. Der verbindende Faktor dieser Plattformen ist, dass die Inhalte von Schritt zu Schritt stärker komprimiert werden.
Einen neuen Gipfel erreichte dieser Trend für mich, als ich diesen Artikel auf Zeit-Online gelesen habe. Beschrieben wird ein neuer Trend in China, in dem Autoren ihre Leser täglich mit Updates von einem bestimmten Umfang versorgen müssen, um die Fans bei Laune zu halten. Sie müssen jeden Tag frischen Content bereitstellen und zwar um jeden Preis, weil der Druck von der Konkurrenz überholt zu werden, enorm ist.
Niemand kann auf diesem Level Inhalte irgendeiner Art liefern, von Komplexität und Tiefe ganz zu schweigen. Das ist aber auch nicht wirklich ein Problem, denn Inhalte sind gar nicht gewünscht. Das wirklich Tragische an der Geschichte ist: Es funktioniert ja tatsächlich oft genug. Menschen werden täglich berühmt und erfolgreich und reich auf der Basis von: Nichts.
Für einen Schriftsteller ist eine solche Entwicklung natürlich verheerend. Niemand will sich noch Zeit nehmen ein oder zwei Jahrzehnte lang zu lernen. Tolkien hat zwölf Jahre lang am Herrn der Ringe geschrieben. Bis heute findet sich kein Werk, dass qualitativ auch nur in die Nähe kommt. Warum nur? Wie soll das auch jemals wieder passieren, wer hat heute noch die Zeit? Ein minimalstes Investment ist doch viel einfacher, besonders, wenn man daraufhin jede Kritik einfach überschreit, das funktioniert online hervorragend … jeden Tag aufs Neue.
Dementsprechend begegnet man erschreckend vielen Autoren, die überhaupt nicht mehr lernen wollen. Was sie stattdessen wollen ist: Rechthaben. Dicht gefolgt von: Anerkennung fordern. Nirgendwo in dieser Struktur ist noch Platz für lange Phasen der Stille, gefüllt mit Reflektion.
Für mich ist das nur eine weitere Motivation noch viel langsamer zu werden. Ein Kampfkunst-Lehrer bewarb vor zwanzig Jahren sein Dojo in Köln mal mit dem Spruch:
Wir haben so wenig Zeit, wir müssen sehr langsam vorgehen.
Das würde ich vorbehaltlos unterschreiben.
Ich halte mich für einen Autor, der extrem kritisch gegenüber seinem eigenen Schreiben ist. Meine ersten drei Bücher bezeichne ich unverblümt als Fingerübungen. Mit meiner Lektorin Helga Sadowski scherze ich immer wieder, dass wir irgendwann mal, wenn wir groß sind, ein richtiges Buch schreiben wollen. Aber egal wie kritisch ich bin, mich erstaunt dennoch immer wieder die Einstellung, welche wahre Meisterautoren gegenüber ihrem eigenen Schaffen hatten:
Von dem legendären amerikanischen Journalisten und Autor Hunter S. Thompson ist bekannt, dass er mehrmals in seinem Leben weite Teile des Meisterwerkes The Great Gatsby von F. Scott Fitzgerald abgeschrieben hat. Per Hand. Abgeschrieben! Auf die Frage, warum er denn bitte anderer Leute Bücher abschreibt, antwortete er, dass er wenigstens einmal in seinem Leben spüren wollte, wie es sich anfühlt ein Meisterwerk zu schreiben.
Wieder einmal glänzt der Elektrische Engel mit analytischem Wissen. Um gleich am Anfang mit einem Zitat zu beginnen, möchte ich Frank Budgen hervorheben: „Ich habe den ganzen Tag hart am Ulysses gearbeitet. “ „Heißt das, dass Sie viel geschrieben haben? „, sagte ich. „Zwei Sätze“, sagte Joyce. „Haben Sie nach dem mot juste gesucht? „, sagte ich. „Nein“, sagte Joyce. „Die Wörter hab ich schon. Ich suche nach der vollkommenen Anordnung der Wörter im Satz. “
Was für ein Genie! Dieser Joyce.
Unsereiner hat noch nicht mal die Wörter …
Oder ist stundenlang auf der Suche nach ihnen. Aber das wiederum kann so schlecht nicht sein. – Wenn man sucht:
Wir sollten wenigstens den Anspruch haben, in jedem geschriebenen Satz das einzelne Wort sieben Mal im Munde zerkaut zu haben, zu prüfen, ob sich etwas Besseres, etwas Einzigartiges finden lässt, um sich und dem Leser eine Freude machen zu können. Schenken wir uns eine Melodie, Alliterationen, einen effektvollen Effekt, Assonanzen, damit wir aus den tiefsten Tiefen hohe Höhen erklimmen und totgeschriebene Wortaneinanderreihungen den anderen überlassen können.
Gar nicht so einfach. Aber danach streben kann jeder. Und wenn es dieser einzige Satz ist, der spektakulär uns die Schamesröte ins Gesicht treibt, weil er so geil geworden ist. Nehmen wir ihn als Ansporn, und hauen in zwei Wochen, nach vierzehntägigem Grübeln, den nächsten raus. So haben wir schon zwei.
Nicht zu vergessen: Ja, richtig! Lesen wir die Giganten, saugen wir sie auf, fressen wir sie, lernen wir sie, und vor allen Dingen: gönnen wir ihnen den Ruhm! Auch den weniger dollen Schreiberlingen.
Auch wir freuen uns über ein lobendes Wort. Müssen aber auch die barsche Kritik einpacken. Um sie zu Hause wieder auszupacken und zu reflektieren. Wer Kritik erhält, wurde gelesen. Und wenn sie unter der Gürtellinie ist, zeigen wir uns von der menschlichen Seite. Besser, mit einem dritten und vierten Satz, an dem keiner staunend vorbeikommt.
Ich weiß, alles leicht gesagt. Wie meinte noch William Faulkner:“Schreib den ersten Satz so, dass der Leser unbedingt auch den zweiten lesen will. “
Da kann ich nur hinzufügen : und den dritten und den vierten und…
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