Meisterhafte Kurzgeschichten

Ich hatte bereits an anderer Stelle über die seltsame Dichotomie zwischen der Kurzgeschichte und dem Roman in der zeitgenössischen Publikationsbranche geschrieben.

Diese führt dazu, dass eine ganze Generation von aufstrebenden Autoren verzweifelt versucht die Kurzgeschichte zu meistern, ein Genre, welches absurderweise fast noch schwerer ist als der erste Roman, für den alle in Wahrheit üben wollen.

Das wirft die Frage auf, ob es denn wenigstens Kurzgeschichten gibt, die einem Autor als Vorlage dienen können? Die so gut strukturiert sind und so viele wichtige Kriterien dieses Genres abdecken, dass man sie studieren und analysieren kann? Natürlich gibt es die. Ich würde gerne am Beispiel von Ernest Hemingways Kurzgeschichte Hills like white Elephants demonstrieren, wie es aussieht, wenn ein Meister sich der Kurzgeschichte annimmt.

Die Geschichte kann hier im Original gelesen werden. Eine deutsche Version findet sich hier. (Der Text stand jahrelang frei zugänglich im Netz. Kürzlich hat Die Zeit jedoch eine kostenfreie Anmeldung davor geschaltet. Seufz. Nebenbei: Die Übersetzung aus dem Amerikanischen ist von Annemarie Horschitz und leider nicht gut. Unglücklicherweise hat Hemingway niemanden sonst erlaubt seine Texte ins Deutsche zu übertragen.)

Hills like white Elephants gehört zu den bekanntesten kurzen Werken Hemingways, einfach weil sie eine der Lehrbuch-Kurzgeschichten schlechthin ist.

Es gibt zahlreiche ausführliche Interpretationen online, deswegen werde ich mich darauf beschränken einige wichtige Kriterien aufzulisten, und dabei aufzuzeigen, wie der Autor diese umgesetzt hat, gewissermaßen als Startpunkt für den Leser, von dem aus dieser allein weitergehen und sich selbst einen Zugang erarbeiten kann.

Der Umfang:

Die Geschichte hat tatsächlich gerade mal 7.500 Zeichen (plus Leerzeichen), das ist selbst für eine Kurzgeschichte knapp. Hemingway, der ja hauptberuflich Journalist war, ist berühmt für seinen schlichten, schmucklosen und prägnanten Stil. Beachtet, dass sich das Wort Kurzgeschichte nicht auf die Länge bezieht. Das ist ein verbreiteter Irrtum. Vielmehr geht es darum die zentrale Aussage so kurz und präzise wie möglich zu formulieren und jede Information, die die Aussage nicht vorantreibt, schlicht wegzulassen.

Unvermittelter Einstieg:

Beachtet, dass Hemingway auf jede Exposition verzichtet. Es gibt zwei Protagonisten und wir erfahren praktisch nichts. Wir wissen nicht wer sie sind, oder warum sie auf der Reise sind. Wir erfahren nicht einmal ihre Namen.

Die Geschichte beginnt mit einem klassischen Trick. Wir zoomen in das Bild hinein, wie mit einer Kamera.

Berge – Tal – Schienen – Haus – Gardine – Tisch … und dann sind wir auch schon übergangslos im Gespräch der beiden Protagonisten angekommen. Der Kamerazoom am Anfang ist alles, was wir zur Orientierung bekommen.

Zentraler Konflikt:

Hier zeigt sich die Meisterschaft des Autors. Der zentrale Konflikt wird zu keinem Zeitpunkt angesprochen. Er wird nicht erklärt oder auch nur angedeutet. Dennoch ist es vollkommen offensichtlich, um was sich das Gespräch dreht. Die Frau ist ungewollt schwanger geworden und der Mann versucht sie offensichtlich zu einer Abtreibung zu überreden.

Dieser Konflikt ist auch ohne Exposition offensichtlich, er ist sogar wortwörtlich überall um die Protagonisten herum zu erkennen. Der Autor lässt uns nicht zufällig auf einen Zug warten, der nicht kommt. Es ist nicht umsonst eine heiße Wüste. Im Setting spiegelt sich die Handlung. Die Protagonisten sind an einem toten Punkt in ihrer Beziehung angekommen und können nirgendwo hin fliehen. Doch das ist noch nicht alles.

Ich finde es vollkommen unfassbar, wie der Autor uns den Hauptkonflikt bereits im Titel erklärt!

Im englischsprachigen Raum der betreffenden Zeit ist Weißer Elefant ein feststehender Begriff. Er bezeichnet ein ungewolltes Geschenk, das man nicht ablehnen kann, welches man aber auch nicht behalten will. Hügel wie weiße Elefanten suggerieren damit gleich mehrere Botschaften. Wir denken Hügel und Schwangerschaft und haben automatisch den Babybauch der Mutter vor Augen. Die Hügel sind überall um die Protagonisten herum sichtbar! Das Hauptthema hängt also wie der sprichwörtliche Elefant im Raum über den Beiden und kann nicht ignoriert werden, egal wo sie hinsehen.

Sie sitzen in der Wüste ihrer eigenen Beziehung und können sich in keine Richtung wenden, ohne dass ihnen der Konflikt vor Augen steht. Bitte beachtet, dass dies kein kleiner Konflikt ist. Angesichts der Zeit, in der diese Geschichte spielt, ist der Eingriff, um den es hier geht, keineswegs Routine und nicht so einfach, wie ihn der Mann darstellen will. Er ist sogar sehr gefährlich für die Mutter. Dies sagt uns nebenbei eine Menge über den Charakter des Mannes.

Lösung des Konflikts:

Wir haben den Konflikt also hinreichend etabliert, aber wo ist die Lösung? Achtet mal genau auf den Schluss. Der Mann geht weg. Das ist kein Zufall! Er geht weg und lässt die Frau buchstäblich mit ihrer schweren Entscheidung allein. Dann kommt er wieder und:

Sie saß am Tisch und lächelte ihn an.

„Fühlst du dich besser?“ fragte er.

„Ich fühl mich glänzend“, sagte sie. „Ich bin ganz in Ordnung. Ich fühl mich glänzend“

Mit anderen Worten: Sie hat eine Entscheidung getroffen. Auch hier wird wieder auf jede Exposition verzichtet. Wie groß wäre jetzt die Versuchung(!) dem Leser Erklärungen zu liefern. Aber es ist alles gesagt. Deswegen endet die Geschichte auch genau nach diesem Satz. Es gibt nichts mehr zu sagen. Wie es weitergeht mit den beiden ist nicht relevant. Das Ende bleibt offen. Der Autor hat seine zentrale Aussage transportiert und hört auf zu schreiben! Ich kann nicht genug betonen wie wichtig das ist.

Zentrale Aussage:

Hemingway sagt es uns die ganze Zeit, indem er es nicht sagt. Das ganze leere Geschwafel der Protagonisten ist gewollt und wichtig. Es gibt bei Hemingway keine Zufälle.

Es ist eine Geschichte, in der die gesprochenen Worte keinen Inhalt haben. In einer Kurzgeschichte, die aus Worten besteht, welche das Thema vermeiden. So etwas kann nur ein Meister.

Hier trifft eine Frau eine Entscheidung, die ihr Leben für immer verändern wird und sie tut es ohne Worte. All die Gesprächsinhalte, welche die beiden austauschen sind angesichts des Konflikts nutzlos. Alle Erklärungen, Versprechen und Beteuerungen führen genau nirgendwo hin. Zum Schluss, wenn es hart auf hart kommt, sind Worte nicht mehr zu gebrauchen.

Am Ende treffen wir unsere richtig großen Entscheidungen im Stillen und allein.

 

Bonusrunde:

Wer des Englischen mächtig ist und sich noch einmal das Leben und Wirken von Ernest Hemingway in Erinnerung rufen will, dem sei folgendes kurze Video wärmstes ans Herz gelegt.

„The Life and times of Ernest Miller Hemingway in approximately three and a half minutes… GO!“

This is one of those videos on YouTube I can watch absolutely every single day. By now I know half the lines by heart. The story is narrated by the Purple Puppet Randy Feltface, an Australian puppet comedian, voiced and operated by Heath McIvor. If you don’t know Randy, … well you should.

[The video is an excerpt from the 2015 Live Show „Randy Writes a Novel“]

 

 

2 Kommentare zu „Meisterhafte Kurzgeschichten

  1. Interessanter Beitrag. Danke. Ich frage mich allerdings, ob es nicht auch herausragende Beispiele der deutschsprachigen Literatur gibt. Zumal Sie ja selbst sagen, dass die Übersetzung ins Deutsche den Geist des Meisters nicht trifft. Ich schreibe selbst für die Plattform Story one Kurzgeschichten und lese auch gerne die Geschichten meiner Kollegen. Story one erlaubt pro Geschichte maximal 2500 Zeichen, was eine gute Übung ist. Sehr oft bestehen Geschichten in der Hauptsache aus Dialogen. Das fällt mir auch bei Büchern der Neuzeit auf. Ist das nun ein Trend, Kino auf Papier zu bringen, oder große Literatur? Ich habe versuchsweise den Text eines weltberühmten Schriftstellers in das vielgepriesene Internet- Lektorat ‚Papyrus Autor‘ Programm kopiert. Der Text wurde als ’nicht lesbar‘ klassifiziert.
    LGLore

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  2. Sehr guter Beitrag. Ich frage mich schon seit langem, wer die Behauptung in die Welt gesetzt hat, Kurzgeschichten wären einfach zu schreiben. Was man dann nämlich meistens liest, sind Kurzromane, die sich schlecht lesen, weil ein Roman dazu da ist, eben mehr als nur eine knappe Erzählung zu sein.

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