Immer wieder weise ich Autoren darauf hin, dass ihrer Kurzgeschichte etwas fehlt. Sie muss einen spontanen Einstieg haben, am besten mitten im Dialog. Sie sollte überhaupt sehr dialoglastig sein, aber bitte ohne langatmige Erklärungen. Sie muss eine überraschende Wendung am Schluss haben, welche den Leser verblüfft. Und so weiter, und so weiter. Dabei stelle ich diese Forderungen auch noch so dar, als wären sie in Stein gemeißelte, eherne Gebote der Literatur. Ich sollte mich schämen, denn das stimmt natürlich nicht.
Jeder, der sich in der Weltliteratur, besonders im literarischen Schreiben, auch nur fünf Minuten lang umsieht, wird feststellen, dass die großen Meister in ihren Kurzgeschichten oft das exakte Gegenteil meiner Empfehlungen umgesetzt haben. Wer sich zum Beispiel eine beliebige Kurzgeschichte von Raymond Carver ansieht, wird feststellen, dass er oft mit langwierigen Erklärungen beginnt, praktisch keine Wendungen benutzt, teilweise sehr karge Dialoge strikt, oder den Ich-Erzähler gerne, und geradezu obszön lange, einfach vor sich hinschwatzen lässt. Nicht nur das, manchmal hört er auch scheinbar einfach mitten im Geschehen auf zu schreiben.
Mit anderen Worten: Er macht in seinen Meisterwerken alles richtig, indem er konsequent das Gegenteil von dem tut, was ich empfehle.
Ja, was denn nun?
Die Antwort ist so simpel wie wenig offensichtlich. Er war ein Meister, deswegen durfte er natürlich auch alle Konventionen brechen. Regeln sind für Anfänger gemacht. Sie erleichtern einem unerfahrenen Autor ein ohnehin schweres Genre langsam in den Griff zu bekommen. Sie sind die Stützräder, die wir benutzen, weil wir noch nicht in der Lage sind die Struktur der Geschichte instinktiv zu balancieren. Zu Beginn pressen wir unsere Kunst noch in Regeln, um uns nicht gleich von Anfang an zu überfordern. Jemand, der Klavier spielen lernt, übt Tonleitern. Raymond Carver brauchte nicht mehr üben. Er konnte zum Frühstück über Rachmaninoff extemporieren, … metaphorisch gesprochen.
Wir, die wir nicht auf dem Level eines Meisters schreiben, sind derweil dankbar, dass wir die Stützräder haben. Das muss auch nicht immer nur schlecht sein. Der Nachteil hoher Kunst ist, dass sie mitunter den durchschnittlichen Leser schlicht abhängt. Die schiere sprachliche Macht und das strukturelle Genie eines Meisters können den ungeübten Leser manchmal einfach ratlos im Plot stehen lassen. Man fragt sich dann nach der letzten Zeile, was bitte jetzt gerade passiert ist. Ich persönlich bin deswegen mehr als verhalten, wenn es darum geht Konventionen zu brechen, um den Leser zu fordern. Ich mag meine Stützräder eigentlich immer noch ganz gerne.
–
Nebenbei: Raymond Carver war ein amerikanischer Erzähler und Dichter, der als der große Erneuerer der Kurzgeschichte in den Achtzigern gilt. Sein Werk wird stilistisch dem literarischen Minimalismus zugerechnet. Er ist bekannt für seine einfühlsamen und tief bewegenden Portraits einfacher, gebrochener Menschen.
Ein Kommentar zu „Konventionen brechen“